Selbstbestimmt-Leben-Bewegung

Die Selbstbestimmt - Leben - Bewegung ist die Behindertenbewegung, welche aus der amerikanischen Independent-Living-Bewegung entstanden ist. Es handelt sich um eine Bewegung mit dem Hauptziel, Menschen mit Behinderungen dahingehend zu unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. 

Independent - Living - Bewegung und Selbstbestimmt-Leben-Bewegung 

Übersetzt man den Begriff Independent-Living aus dem Englischen, so bedeutet dies "unabhängiges", "selbstständiges" oder "autonomes" Leben. Die Independent - Living - Bewegung hat zum Ziel, Menschen mit Behinderungen dabei zu unterstützen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Judith Heumann vom World Institute on Disability, die eine wichtige und aktive Person in der amerikanischen Behindertenbewegung darstellt, sieht in diesem selbstbestimmten Leben keine aktiven Tätigkeiten sondern vielmehr einen Entscheidungsprozess. So definiert sie Independent - Living wie folgt:

„To us, independence does not mean doing things physically alone. It means being able to make Independent decisions. It is a mind process not contingent upon a normal body“. 

Diese Aussage verdeutlicht, dass Independent - Living nicht das tatsächliche Ausüben der Tätigkeit darstellt, sondern es Menschen mit Behinderung zugeschrieben wird, persönliche und ökonomische Entscheidungen eigenständig zu treffen. Grundlage stellt hier die Annahme dar, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Rechte, Privilegien sowie Verantwortung tragen, wie alle Bürger in der Gesellschaft.

Die Independent - Living Bewegung umfasst mehrere Selbsthilfegruppen und arbeitet auf folgenden drei Ebenen. Erste Ebene, in der die Vermittlung von Diensten stattfindet, die den Adressaten ein selbstbestimmtes Leben ermöglichen sollen und zweite Ebene Trainingsangebote und Bewusstseinsveränderung. In der dritten Ebene legt die Independent - Living - Bewegung einen großen Wert auf politische Arbeit mit dem Ziel gleiche Bürgerrechte für Menschen mit Behinderungen zu schaffen.

Im Zuge der Liberalisierung in der amerikanischen Gesellschaft und zahlreichen anderen Bewegungen, wie beispielsweise der Frauenbewegung, entwickelte sich in den 1960er Jahren eine Bewegung von Menschen mit Behinderungen - Die Independent - Living - Bewegung. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es für Menschen, die einen Unterstützungsbedarf haben lediglich die Möglichkeit, in Institutionen zu leben. Ed Roberts (1939-1995), der mit 14 Jahren an Polio (Kinderlähmung) erkrankte und seitdem auf ein Beatmungsgerät angewiesen war, klagte sich 1962 in die renommierte University of California (UC) in Berkeley ein. Der Dekan der UC hatte seine Ablehnung mit den Worten gerechtfertigt: „Wir haben es mit Krüppeln versucht und es hat nicht funktioniert.“ Ed Roberts bekam jedoch recht, konnte fortan an der UC studieren und zog infolgedessen in das Studentenkrankenhaus Cowell Hospital nahe des Campus der Universität ein, in dem zwölf weitere schwerstbehinderte Studenten lebten. Dieses Ereignis wird in der amerikanischen Behindertenbewegung als Ursprung der Independent - Living - Bewegung angesehen. Viele Menschen mit Behinderung sahen in Ed Roberts ein Vorbild und fühlten sich motiviert, ebenfalls ein eigenständiges Leben anzustreben.

1968 schlossen sich die sogenannten Rolling Quads zusammen, bei denen Ed Roberts ebenfalls aktiv war. Die „Rolling Quads“ waren die erste Organisation von Studierenden mit Behinderungen. Diese Gruppe organisierte in den kommenden Jahren zahlreiche Aktivitäten, die es zum Ziel hatten, Studierenden mit Behinderungen ein selbstbestimmtes Leben in der Gemeinde zu ermöglichen. Im Jahre 1970 entwickelten die Rolling Quads das Physically Disabled Student's Program (PDSP) an der UC in Berkeley. Dieses Programm unterstützt Studenten mit einer Behinderung bei der Gestaltung ihres selbstbestimmten Lebens, wie beispielsweise ein Studium mit Behinderung oder Unterstützung bei der Findung einer geeigneten Wohnform.

1970 formierten sich auch in anderen Teilen der USA Menschen mit einer Behinderungen um für ihre Rechte zu kämpfen. Judy Heumann, die das New York City Board of Education verklagte, da dieses ihr die Lehrerlizenz aufgrund ihrer Gehunfähigkeit verwehrte, gründete 1970 die Disabled in Action. Diese setzte gemeinsam mit anderen behinderten Studierenden die Long Island University unter Druck, um ein Unterstützungsprogramm für Studierende mit Behinderungen durchzusetzen. Es folgten eine Vielzahl von Protestaktionen beispielweise in Form von Demonstrationen oder Straßenblockaden, die zum Ziel hatten, die Diskriminierung von behinderten Menschen in New York City und anderen Städten der Ostküste zu eliminieren.

1972 wurde dann das erste Center for Independent Living (CIL) in Berkeley gegründet. Dieses Zentrum richtete seine Arbeit an Menschen mit Behinderungen in der Gemeinde. Somit waren die Adressaten nicht mehr nur Studierende, sondern alle Bürger mit einer Behinderungen. Mitte der 1970er Jahre folgten weitere CILs in New York City, Boston, Houston und Chigago. Diese CILs und die Gruppe Disabled in Action setzten sich gemeinsam für ein Anti - Diskriminierungs - Gesetz, den Rehabilitation Act of 1973 (Rehabilitationsgesetz von 1973) ein. Besonderes Augenmerk lag hier auf der Section 504.

In diesem Gesetz wurde folgender Grundsatz festgehalten:

„Kein ansonsten qualifizierter Behinderter darf nur aufgrund seiner Behinderung ausgeschlossen werden von  der Teilhabe an einem Programm oder einer Aktivität, die finanzielle Unterstützung durch den Bund erhält. Ihm dürfen weder deren Vorteile vorenthalten werden, noch darf er der Diskriminierung ausgesetzt sein.“ 

Da es Widerstand gegen dieses Gesetz gab, reagierten Anhänger der CILs und der Disabled in Action mit zahlreichen Protestaktionen. Beispielsweise besetzten 150 Menschen mit Behinderung 28 Tage lang das Department of Health, Education and Welfare in San Francisco. 1977 trat das Anti - Diskriminierungs - Gesetz in Kraft. Durch dieses Gesetz verbesserte sich die Lebenssituation von Menschen mit Behinderung, und in den kommenden Jahren beschäftigte sich die Independent - Living -Bewegung mit der Umsetzung des Gesetzes.

Es entstanden weitere CILs, sodass 1986 bereits 300 Zentren fester Teil der Independent -Living - Bewegung waren. Mit dem Gesetz „Americans with Disabilities Act of 1990“ - ADA (Gesetz über behinderte Amerikaner von 1990) konnte ein weiterer wichtiger Meilenstein in der amerikanischen Behindertenbewegung gesetzt werden. Durch dieses Gesetz wurde erreicht, dass beispielsweise alle öffentlichen Verkehrsmittel sowie öffentliche Einrichtungen barrierefrei zugänglich sein müssen. Ebenso wurden Sprach- und Hörbehinderte bei telekommunikativen Einrichtungen berücksichtigt. Somit konnten fortan im Falle einer Diskriminierung im öffentlichen und privaten Bereich Sanktionen eingeklagt werden. Zum jetzigen Zeitpunkt (2016) gibt es in den USA mehr als 300 Center for Independent -Living, die weiterhin aktiv für die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen eintreten und erreicht haben, dass Behinderung in Amerika als Bürgerrechtsfrage angesehen wird.

Wie in den Vereinigten Staaten, entwickelte sich auch in Deutschland eine Behindertenbewegung, die Selbstbestimmung behinderter Menschen zum obersten Ziel Selbstbestimmung hatte: Die Selbstbestimmt - Leben - Bewegung. Bevor der historische Kontext der Selbstbestimmt - Leben - Bewegung genauer dargestellt wird, soll zunächst eine genauere Definition des Begriffs Selbstbestimmung vorgenommen werden.

Selbstbestimmung wird als Synonym für Autonomie und Eigenständigkeit verwendet. In der Behindertenhilfe wird diese Definition jedoch angegriffen, da man unter dem Begriff Autonomie Selbstständigkeit bzw. ein Selbermachen versteht, das bei Menschen mit Behinderungen keine Umsetzung findet. Aus diesem Grunde wird unter Selbstbestimmung jede Handlung verstanden, die Menschen mit und ohne Persönliche Assistenz ohne Fremdbestimmung selbst festlegen. In diesem Definitionsversuch steckt der wichtige Begriff der Fremdbestimmung. Fremdbestimmung bedeutet, dass Institutionen und professionelle Helfer für Menschen mit Behinderungen Entscheidungen treffen und diese somit in ihrem eigenen Entscheidungsprozess eingeengt werden. Somit bildet die Selbstbestimmung das Gegenmodell zur Fremdbestimmung und zum Paternalismus des traditionellen, medizinisch - defizitorientierten Rehabilitationswesens. Dieser Blickwinkel auf Selbstbestimmung bedeutet, dass Menschen mit Behinderung zugesprochen wird, ihr eigenes Leben nach freiem Willen unabhängig und mit einer Wahlmöglichkeit zu gestalten. 

Selbstbestimmt Leben wird in der UN - Behindertenrechtskonvention im Artikel 19 unter „Unabhängige Lebensführung und Einbeziehen in die Gemeinschaft“ als Vertragsinhalt festgelegt. So heißt es im Artikel 19:

„Die Vertragsstaaten dieses Übereinkommens anerkennen das gleiche Recht aller Menschen mit Behinderungen, mit gleichen Wahlmöglichkeiten wie andere Menschen in der Gemeinschaft zu leben, und treffen wirksame und geeignete Maßnahmen, um Menschen mit Behinderungen den  vollen Genuss dieses Rechts und ihre volle Einbeziehung in die Gemeinschaft und Teilhabe an der Gemeinschaft zu erleichtern, [...]“  

Die Zielsetzung der Selbstbestimmt - Leben - Bewegung beinhaltet, Bevormundung und Aussonderung durch Nichtbehinderte abzuschaffen und Menschen mit Behinderung zu stärken, für die eigenen Rechte einzustehen. Ebenso fordert die Selbstbestimmt - Leben Bewegung die größtmögliche Kontrolle über das eigene Leben für Menschen mit Behinderungen, die durch Wahl- und Entscheidungsfreiheit umgesetzt werden soll. Aus dem Selbstbestimmt - Leben - Konzept entwickelte sich auch das Gegenmodell zu Betreuungsform: Die Persönliche Assistenz. Die Persönliche Assistenz setzt Selbstbestimmung insofern um, dass Menschen mit Behinderungen ihre benötigten Hilfen unabhängig von Institutionen und deren fremdbestimmte Strukturen eigenverantwortlich organisieren.

Im folgenden Abschnitt wird die Selbstbestimmt - Leben - Bewegung im historischen Kontext dargestellt und genauer beleuchtet, welche  Ereignisse dazu beigetragen haben, Menschen mit Behinderungen in ihrer Selbstbestimmung zu stärken.

Im Nationalsozialismus wurden Menschen mit Behinderungen Opfer der Euthanasie. Laut einer Statistik, die durch die Nationalsozialisten selbst erhoben wurde, gab es in den Jahren von 1940 bis 1941 70273 Menschen mit Behinderungen, die der Euthanasie zum Opfer fielen. Diese Menschen wurden als „geisteskrank“ oder „lebensunwert“ bezeichnet.

Nach dem zweiten Weltkrieg wurden die ersten Organisationen für Kriegsbeschädigte und deren Hinterbliebenen gegründet. Für die Zivilbeschädigten, die ihre Behinderung nicht als Folge des Krieges erworben hatten, gab es zunächst keine öffentliche Hilfe. Erst in den 1960er Jahren gründeten nach und nach Eltern von Kindern mit Behinderungen Vereine, die auf bestimmte Behinderungsarten ausgelegt waren. 1958 wurde die Bundesvereinigung „Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind“ gegründet, sowie der „Verband Deutscher Vereine zur Förderung spastisch gelähmter Kinder“. Primäres Ziel dieser Elternvereinigungen war es, Kinder mit Behinderungen zu fördern und gleichwohl die Familien zu entlasten. Hierbei engagierten sich viele Mediziner. Kurze Zeit später wurden Sonderschulen und Sonderkindergärten errichtet, sowie durch die Lebenshilfe, die ersten Werkstätten und Wohneinrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Mitte der 1970er Jahre gab es eine Vielzahl von Sondereinrichtungen, in denen Menschen mit Behinderungen unterkamen. Fachleute waren der Meinung zu wissen, welche Lebensweise für Menschen mit Behinderungen am besten wäre, und somit war zu diesem Zeitpunkt an Begriffe wie Selbstbestimmung und Teilhabe nicht zu denken.

Im Zuge der Studenten- und Frauenbewegung in Deutschland fühlten sich die zu diesem Zeitpunkt herangewachsenen behinderten Kinder motiviert, für ihre eigenen Rechte und Freiräume zu kämpfen. Diese überwiegend körperlich behinderten Jugendlichen und jungen Erwachsenen gründeten 1968 den „Club 68“. In diesem ging es zunächst darum, gemeinsame Freizeitaktivitäten mit jungen behinderten und nichtbehinderten Menschen zu planen. Dadurch sollten Vorurteile aus dem Weg geräumt und gegenseitiges Verständnis füreinander gefördert werden. Nach und nach gründeten sich weitere Clubs und die Arbeit dieser weitete sich auf die kommunalpolitische Ebene aus. Zunehmend zielten sie darauf ab, alltägliche Barrieren und die, die sich in den Köpfen der Menschen befanden, abzubauen.

1974 veranstaltete Gusti Steiner gemeinsam mit dem nichtbehinderten Publizisten Ernst Klee in der Volkshochschule Frankfurt einen Kurs mit dem Titel „Bewältigung der Umwelt“. In diesem Kurs sollte gemeinsam mit behinderten und nichtbehinderten Teilnehmern über Probleme, die eine Behinderung in der Gesellschaft mit sich bringt, gesprochen werden. Aus diesem Kurs entwickelten sich zahlreiche Aktionen, die auf die Barrieren der Umwelt aufmerksam machen sollten. So blockierte die Gruppe um Steiner und Klee Straßenbahnen oder bauten eine Rampe, an ein nicht barrierefreies Postgebäude an. Ebenso verlieh die Gruppe mehrmals die „Goldene Krücke“ an Menschen, die in der Behindertenarbeit tätig waren und dort gegen die Vorstellungen der Menschen mit Behinderungen arbeiteten. Bis zu diesem Zeitpunkt war es für die Gesellschaft unvorstellbar, dass Menschen mit einer Behinderung sich öffentlich für die eigenen Rechte einsetzen. 1978 gründeten Franz Christoph und Horst Frehe die „Krüppelgruppe“ in Bremen. Diesen von der Gesellschaft als sehr provokant wahrgenommenen Namen wählten die Gründer bewusst, da sie Behinderung als zu harmlos ansahen und Krüppel in ihren Augen die Distanz zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen widerspiegelte. Ebenso unterstütze der Begriff „Krüppel“ das damalige Verständnis von Behinderung. Diese „Krüppelgruppe“ lehnte jegliche Zusammenarbeit mit Nichtbehinderten ab, um so das bereits vorhandene Machtgefälle zwischen Nichtbehinderten und Behinderten zu vermeiden. Diese in der Gesellschaft wahrgenommene Gruppe gab in den Jahren von 1979 bis 1985 die „Krüppelzeitung - Zeitung von Krüppeln für Krüppel“ heraus.

Im Jahre 1980 sorgte ein Gerichtsurteil für eine starke Solidarisierung unter den Menschen mit Behinderungen. In diesem Urteil klagte eine Frau, die im Urlaub den Anblick eines behinderten Menschen „erdulden“ musste. Die Zivilkammer des Frankfurter Landesgerichts gab der Frau recht. Das Urteil sorgte für rege Diskussionen und zahlreiche Demonstrationen. Am 8. Mai 1980 demonstrierten 5000 Menschen mit und ohne Behinderung in Frankfurt am Main lautstark, sodass auch Medien auf diese Situation aufmerksam wurden.

Durch diese starke Solidarität schloss sich die „Aktionsgruppe gegen das UNO - Jahr“ zusammen und plante 1981 öffentlichkeitswirksame Aktionen zur Störung von Veranstaltungen anlässlich des UNO - Jahres der Behinderten. Unter anderem störte eine Vielzahl von Aktivisten die Eröffnungsveranstaltung in der Dortmunder Westfalenhalle und torpedierte gezielt die Eröffnungsrede des damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens. Die behinderten Demonstranten forderten unter anderem die Abschaffung von Aussonderung und den Verzicht auf Menschenrechtsverletzungen. Die Aktion führte dazu, dass Carstens seine Rede in einem Nebenraum halten musste. Noch im selben Jahr boykottierte eine Gruppe behinderter Menschen eine Reha - Messe. Franz Christoph stürzte sich in dieser Veranstaltung auf den Bundespräsidenten mit den Worten: „Du Partner! Hast Du aus Dortmund nichts gelernt?“ und schlug auf diesen mit seiner Krücke ein. Im Nachhinein beschwerte sich dieser öffentlich in den Medien, warum er für diesen Angriff keine Strafe bekomme. Dies zeigte deutlich, dass der Widerstand von Menschen mit Behinderungen nicht ernst genommen wurde. Im Jahre 1981 schloss sich das „Krüppeltribunal“ zusammen, um auf die Verletzung der Menschenrechte bei Menschen mit Behinderungen im Sozialstaat aufmerksam zu machen. Diese Initiativgruppe lehnte jegliche Zusammenarbeit mit Nichtbehinderten ab und konnte aus diesem Grunde keine Einigkeit mit der Aktionsgruppegegen das UNO - Jahr finden. Das Krüppeltribunal bestand aus verschiedenen Arbeitsgruppen, die sich mit unterschiedlichen Themen, wie beispielsweise Unzugänglichkeiten im öffentlichen Verkehr, Gewalt an Frauen mit einer Behinderung, Arbeitslosigkeit und Werkstätten auseinandersetzten. In den Jahren 1978 bis 1981 wurde in München der erste selbst organisierte ambulante Hilfsdienst - die VIF (Vereinigung Integrations - Förderung e.V.) gegründet. Dieser Dienst arbeitete mit Zivildienstleistenden und Praktikanten und ermöglichte Menschen mit einer Behinderungen, die auf Hilfestellung im Alltag angewiesen waren, ein Leben außerhalb von Sondereinrichtungen. 1982 fand bei der VIF in München der erste internationale Kongress zum Thema „Behindernde Hilfe oder Selbstbestimmung der Behinderten - Neue Wege gemeindenaher Hilfe zum selbstständigen Leben“ statt. An diesem Kongress nahmen Teilnehmer aus den USA, Kanada, England, Dänemark, Italien, den Niederlanden und Schweden teil. Es fand ein reger Austausch zur Umsetzung von Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung statt. Aus dem Hilfsdienst VIF entwickelten zum späteren Zeitpunkt Menschen mit Assistenzbedarf das heutzutage immer häufiger vorkommende „Arbeitgebermodell“. Durch diese Art der Bereitstellung von Assistenzleistungen wurde ein selbstbestimmtes Leben in einer eigenen Wohnung erstmalig umgesetzt.

Durch das UNO - Jahr entwickelte sich die Behindertenbewegung fortan in der ganzen Bundesrepublik Deutschland. Es entstanden weitere ambulante Dienste sowie das erste Selbstbestimmt - Leben - Zentrum in Bremen. Weitere folgten in Hamburg und Köln. Diese Zentren orientierten sich an dem 'Center for Independent - Living' in den USA. 1990 wurde der Bundesverband der Zentren für selbstbestimmtes Leben - Die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland e.V. (ISL e.V.) gegründet. In diesem Dachverband solidarisierten sich fortan alle 'Zentren für Selbstbestimmtes Leben' (ZSL) und vertraten die Grundsätze eines selbstbestimmten Lebens für Menschen mit Behinderungen. ZSLs müssen überwiegend behinderte Frauen und Männer beschäftigen und nach außen hin ebenfalls von behinderten Menschen vertreten werden. Die ISL e.V. inszenierte zahlreiche Aktionen. Unter anderem organisierte die ISL e.V. den ersten europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung, der noch heute regelmäßig mit Aktionen bundesweit gefeiert und zur Aufklärung genutzt wird. 1994 gelang es der Behindertenbewegung die Politiker davon zu überzeugen, dass es unerlässlich ist, Diskriminierungsschutz für Menschen mit Behinderungen im Grundgesetz zu verankern. Somit wurde das Grundgesetz im Artikel 3 Abs. 3 um den Grundsatz „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“ ergänzt.

2001 führte das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung eine Arbeitsgruppe ein, an der unter anderem Horst Frehe und Andreas Jürgens vom Forum behinderter Juristen teilnahmen. Diese Arbeitsgruppe entwickelte das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG), das mit seinem Inkrafttreten im Jahre 2002 fortan die Verpflichtungen des Bundes im Bezug auf die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen regelte. Themen dieses Gesetzes, das im Sozialgesetzbuch IX verankert wurde, waren beispielsweise die Barrierefreiheit von Gebäuden oder die Anerkennung der deutschen Gebärdensprache. Da dieses Gesetz lediglich Einrichtungen des Bundes betraf, wurden Landesgleichstellungsgesetze entwickelt, die zunächst von den Ländern Berlin, Sachsen - Anhalt, Schleswig - Holstein und Rheinland -Pfalz eingeführt wurden. Um die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen auch im pri-vatrechtlichen Bereich zu gewährleisten, wurde 2006 das zivilrechtliche Antidiskriminierungsgesetz - das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) verabschiedet. Dieses Gesetz gewährleistet unter anderem einen Diskriminierungsschutz in Beschäftigung und Beruf sowie einen Schutz vor Benachteiligung im Zivilrechtsverkehr.

Im Jahre 2006 beschloss die UN - Generalversammlung die Behindertenrechtskonvention (BRK). Dieses internationale Übereinkommen definiert Behinderung erstmals nicht als medizinisches oder individuelles Problem, sondern vielmehr als Ergebnis einer Wechselwirkung zwischen individuellen Voraussetzungen und gesellschaftlichen Barrieren. Die gesellschaftlichen Barrieren wurden als Hinderungsgrund für eine gleichberechtigte Teilhabe verstanden. Die Ratifizierung ohne Einschränkungen erfolgte 2009 und trat in Kraft. Die Umsetzung der BRK erfolgt seitdem in allen Bereichen des täglichen Lebens. Häufig wird der Artikel 24, indem es um das Recht auf eine inklusive Bildung geht, in der breiten Öffentlichkeit diskutiert. 

Der letzte Meilenstein der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung stellt das Bundesteilhabegesetz dar. Dieses Bundesgesetz ist ein Stufengesetz, welches zum Ziel hat die Teilhabe und Selbststimmung von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Im Vorfeld dieses Gesetzes gab es von Seiten der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung einen großen Protest, da einige Neuregelungen die Selbstbestimmung und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen einschränkten. Ein große Forderung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung war die Einführung der Ergänzenden unabhängigen Teilhabeberatungsstellen und damit die flächendeckende Verbreitung der Beratungsmethode Peer Counseling. Peer Counseling stellt die Beratung von Menschen mit Behinderungen durch Menschen mit Behinderungen dar. Dieses Beratungskonzept wurde ebenfalls in der Independent-Living-Bewegung entwickelt. 

Heutzutage gibt es in der Bundesrepublik viele Organisationen und aktive Menschen mit Behinderungen, die sich tagtäglich für eine menschenrechtsorientierte Behindertenpolitik einsetzt. 

Literatur: 

Köbsell, Swantje (2012): Wegweiser Behindertenbewegung. Neues (Selbst-) Verständnis von Behinderung, 1. Aufl., Neu-Ulm: AG SPAK Bücher.

Mürner, Christian (2009): Krüppelzeitung: Brisanz der Behindertenbewegung, 1. Aufl., Verein zur Förderung der sozialpolitischen Arbeit.

Miles-Paul, Ottmar (1992): Wir sind nicht mehr aufzuhalten: Behinderte auf dem Weg zur Selbstbestimmung. Beratung von Behinderten durch Behinderte, peer support, Vergleich zwischen den USA und der BRD, 1. Aufl., München: AG SPAK Bücher.

Stoddard, Susan. (1978): Independent Living: Concept and Program, American Rehabilitation 3, p.2.

Welke, Antje (2012): Die UN-Behindertenrechtskonvention in: Welke, Antje, UN-Behindertenrechtskonvention. Mit rechtlichen Erläuterungen, Berlin: Eigenverlag des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge e.V., S. 9-80.

Dokumentarfilm, Sommer der Krüppelbewegung, Netflix, 2020